Wenn Menschen auf engem Raum zusammen leben, kommt es mehr oder weniger zwangsläufig zu Hierarchien und Machtgefällen. Dabei können die Ursachen dafür, wer Macht ausüben kann oder darf, recht unterschiedlicher Natur sein. Während im Berufsleben sich diese Positionen aus der beruflichen Stellung heraus ergeben können, ist es in anderen Zusammenhängen schwieriger: Auch in anderen sozialen Verbänden hängt es hier davon ab, ob diese Kompetenz aufgrund von Vereinbarung, eigener Autorität oder durch Gewalt zugesprochen oder angeeignet wird. Erst recht gilt solches im sozialen Nahbereich wie in einer Familie oder Wohngemeinschaft.

Hier kann noch hinzu kommen, dass Über- und Unterordnung aus gelebten Traditionen heraus wie selbstverständlich gelebt und auch akzeptiert werden. Der „Herr im Haus“ ist auch in den Zwangzigerjahren des 21. Jahrhunderts weiter verbreitet, als man annehmen müsste.
Gerade hier liegen aber auch Ursachen und Gründe für Gewaltanwendung und Gewalterfahrung. Diese wird in diesen Zusammenhängen nicht nur als Eskalation aus einer Konfliktsituation heraus erlebt, sondern allenfalls als Grenzüberschreitung einer ansonsten gelebten hierarchischen Ordnung. Hierin liegt aber eine wesentliche Gefahr: Gewalt wird so zu einer alltäglichen Möglichkeit des Zusammenlebens. Gewaltausübung wird als legitimes Mittel zur Durchsetzung angeblicher Rechte verstanden, Gewalterfahrung als Strafe für eine Anmassung aus einer untergeordneten Rolle heraus. Diese durch sich selbst legitimierende Gewaltanwendung und Gewalterfahrung braucht daher Anstöße von außen, die den Beteiligten den Spiegel eigenen Verhaltens vorhalten: Der einen Seite zur Erkenntnis, dass es weder eine natürliche Überlegenheit einer Rolle gibt, noch ein Anrecht darauf, eine solche Überlegenheit auch mit psychischer und physischer Gewalt durchzusetzen – und der anderen Seite das Bewusstsein, dass es auch im Zusammenleben keine Rolle geben kann, die eine Unterordnung voraussetzen darf und damit auch keine Legitimation von Strafen für abweichendes Verhalten.
Rollenverständnis und Rollenreflexion ist erlernbar und erfahrbar – und es ist ein weiter Weg, wenn eigene kulturell geprägte Selbstverständlichkeiten hinterfragt und neu justiert werden müssen. Es ist nicht einfach, eine Vorrangstellung zugunsten einer Begegnung auf Augenhöhe auch aufzugeben, genau so, wie es nicht einfach ist, sich aus der Abhängigkeit und Unterordnung zu befreien.
Ich möchte hier entschieden darauf hinweisen, dass auch dieser kulturelle Hinweis ausdrücklich nicht auf Menschen mit Migrationshintergrund gemünzt ist: Ich habe selbst diese Haltungen in vielen Familien erlebt, die seit Jahren und Jahrzehnten einheimisch waren und sind.
Oft reicht eine Intitialzündung, ein Impuls von außen, ein Gespräch unter Freund:innen, um einen Prozess in Gang zu setzen, der diese Art der Disparität zu hinterfragen in der Lage ist – und damit einen Ansatz bietet, einer möglichen Ursache von Gewalt begegnen zu können.
Das Überwinden von Machtgefällen ist ein erster Schritt, weitere wie das Erlernen und Sich-Aneignen von geeigneten Konfliktlösungsstrategien ist ein weiterer. Weil alle Menschen anders sind und auch die Mikro-Soziotope des familiären Zusammenlebens nach jeweils eigenen Bedingungen funktionieren, gibt es keine Allheilmittel: Aber es gibt die Möglichkeiten, durch externe Unterstützung sich gemeinsam und zusammen auf einen Weg zu machen, der auch Gewaltpotentiale in zivilisierte Bahnen lenken kann. Zwischen Paartherapie und Mediation ist hier ein weiter Raum, der genutzt werden kann und auch sollte, wenn den Ursachen häuslicher Gewalt auf den Zahn gefühlt werden soll.
So behält auch nach bald 240 Jahren die Definition Kants der Aufklärung für das familiäre Zusammenleben ihre Aktualität. Die Kant’sche Aufforderung, das Denken zu wagen, muss aber hier ergänzt werden durch eine solche, die Kommunikation zu wagen. Hören und Zuhören und sich Aufmerksamkeit und Achtsamkeit schenken – und sich auf Augenhöhe zu begegnen: Respekt und Achtung – Das ist sicherlich nicht einfach, aber ein Weg, nicht in den Strudel der Gewalt gerissen zu werden.