Immer wieder gerät man bei der Debatte an einen Punkt, an dem sich die Problematik um Strafverfolgung im virtuellen Raum wie unter einem Brennglas auf das Legalitätsprinzip verengt.

Was bedeutet das konkret?
Wenn wir uns dieser Fragestellung nähern, ist es sinnvoll, sich zu vergegenwärtigen, woher dieses Prinzip kommt und welche Bedeutung diesem zuwächst. Vereinfacht bedeutet dieses Prinzip, dass den Staatsanwaltschaften der Zwang zur Verfolgung strafrechtlich relevanten Verhaltens auferlegt wird. Das Bundesverfassungsgericht hat formuliert, dass dies einen Verfolgungszwang gegenüber jeder/jedem Verdächtigen bedeuten würde. (BVerfG, NStZ 1982, 430 [BVerfG 23.07.1982 – 2 BvR 8/82]). Während § 152 StPO zunächst nur die Staatsanwaltschaften adressiert, gilt dieser Zwang über die §§ 163 StPO, 152 GVG der Verfolgungszwang auch für Polizeikräfte, soweit zu ihrem Aufgabenbereich die Aufklärung und Verfolgung von Straftaten gehört. Außerdem trifft dieser Zwang auch die Finanzbehörden bei Steuerstraftaten gemäß §§ 386, 399 Abs. 1 AO.
So wird deswegen auch angeführt, dass der Legalitätsgrundsatz letztlich eine Ausprägung der Rechtsstaatsgarantie des Grundgesetzes sei. Nur so könne eine Gleichbehandlung der Betroffenen gemäß Art. 3 Abs. 1 GG gesichert werden. Strafrechtliche Gerechtigkeit kann letztlich nur durch die Einheitlichkeit der Rechtsanwendung hergestellt werden, wie der Bundesgerichtshof ausgeführt hat. (BGHSt 15, 159 [BGH 23.09.1960 – 3 StR 28/60]).
Nicht zuletzt deswegen kann den Strafverfolgungsbehörden auch kein Ermessen im Sinne des § 40 VwVfG zugebilligt werden, wie auch § 2 VwVfG nochmals klarstellend betont.
Die Bezugspunkte sind daher zweierlei: Strafwürdiges Verhalten auf der einen Seite, also die Formulierung von Straftatbeständen in Strafgesetzen und die Kenntniserlangung der Strafverfolgungsbehörden auf der anderen Seite.
In der virtuellen Welt stoßen wir hier in mehrfacher Hinsicht an die Grenzen: Zunächst einmal sind es die Massen an Möglichkeiten, die nicht nur Rechtsverletzungen ermöglichen, sondern durch die Vernetzung auch zu potentieren in der Lage sind. Ein Mausklick auf einen share-Button vervielfältigt einen inkriminierten Inhalt an eine Vielzahl von Empfänger:innen, deren Weiterverteilung – unter Umständen innerhalb kürzester Zeit – kann eine Lawine auslösen.
Dabei muss zusätzlich auch noch damit gerechnet werden, dass gegebenenfalls bots zum Einsatz kommen, um bestimmte Botschaften und Inhalte zu transportieren, seien es Hassbotschaften oder Nachrichten, die Menschen dazu verleiten sollen, ihre IT-Systeme Angreifer:innen verfügbar zu machen.
Allein die Aufgabe, die dem Bundeskriminalamt im Rahmen der NetzDG-Novelle zukommt, inkriminierende Inhalte eindeutig zu bestimmen und an die dann zuständigen Strafverfolgungsbehörden weiter zu geben, ist ohne den Einsatz von KI-gestützter Analyse nicht machbar.
Doch es ist auch ein anderer Punkt zu beachten:
Im Internet wird staatliche Präsenz nicht wahrgenommen. Abwesenheit von staatlicher Ordnung kann aber zum Regelverstoß einladen und verführen. Die gebetsmühlenartige Wiederholung des Dogmas, dass das Internet kein rechtsfreier Raum sei oder zumindest nicht sein dürfe, verstärkt ja gerade eher den Eindruck, dass dem doch so sei.
Was passiert nun, wenn ein:e Polizist:in oder ein:e Staatsanwält:in beim Surfen im Internet auf entsprechene Inhalte stößt – oder im Mailpostfach eine phishing-Mail findet oder oder oder? Wegducken geht eigentlich nicht, weil eine Strafbarkeit nach § 258, 258a StGB drohen könnte. Zwar gehen Literatur und Rechtsprechung hier mit einschränkenden Argumenten gegen eine Ausuferung dieser Strafvorschriften vor, aber dies ist gerade beim Tatmittel Internet durchaus nicht immer einfach zu handhaben.
Auf der anderen Seite fehlt aber auch mitunter die Sensibilität für strafbares Verhalten im virtuellen Raum: Was leicht erreichbar ist und leicht verteilt werden kann, was soll daran letztlich strafbar sein, es machen doch alle…..
Anders lässt es sich nur schwerlich erklären, warum bei den nun öffentlich gewordenen Skandalen um strafrechtlich relevante Inhalte in Chats von Polizist:innen trotz der Vielzahl der Teilnehmer:innen keine:r auf die Idee gekommen ist, hier ein Stop-Signal zu setzen und auf die Dienstpflichten, die sich aus dem Legalitätsprinzip ergeben könnten, hinzuweisen. Bezeichnenerweise sind die öffentlich bekannten Chatverläufe als Beifang im Rahmen anderer Maßnahmen ans Licht gekommen.
Und zu guter Letzt lässt auch die Effektivität der Maßnahmen am Legalitätsprinzip Zweifel aufkommen: Wenn schon das Anzeigeverhalten insgesamt nicht sonderlich hoch ist, so sind es die Einstellungszahlen bei den dann in Verfahren mündenden Vorgängen doch. Dies aus verschiedensten Gründen, als wesentlich dürften personelle und organisatorische Gegebenheiten den Ausschlag geben. Darüber hinaus ist es aber auch die internationale Verknüpfung und Vernetzung von Internetkriminalität.
So scheinen gewichtige Punkte für eine Aufweichung des Legalitätsprinzips im virtuellen Raum zu Gunsten einer Schwerpunktsetzung und Effektivitätssteigerung sprechen. Auf der anderen Seite berührt dieses Prinzip aber das Rechtsstaatsprinzip in seinem Kern: Es ist das Versprechen des Staates, das ihm übertragene Gewaltmonopol zum Schutze der Rechtsgüter der Menschen, die in diesem Staat leben, auch einzusetzen und strafwürdiges Verhalten auch zur Ahndung zu bringen. Nur so lässt sich „Selbsthilfe“ und eigenmächtiges Vorgehen einschränken – und letztlich die Errungenschaften der Zivilität auch im Virtuellen aufrecht erhalten.
Gleichwohl bleiben die Debatten an dieser Stelle interessant – und werden sich immer wieder aufs Neue an der Schnittstelle zwischen digitaler und analoger Welt entzünden.
Ein Kommentar zu “Das Legalitätsprinzip in der virtuellen Welt”
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