„Der Richter zeigte sich erschüttert: Im Missbrauchsfall von Münster nutzten die Täter offenbar auch die Coronakrise gezielt aus. Mit dem Urteil ist die Aufarbeitung noch längst nicht abgeschlossen.“
Quelle: Urteil im Missbrauchskomplex Münster: »Im Grunde dürften Sie nie wieder raus« – DER SPIEGEL
So beginnt der SPIEGEL seine Berichterstattung über das erstinstanzliche Urteil im Missbrauchskomplex Münster.

Es ist damit zu rechnen, dass dieses Urteil so noch nicht rechtskräftig wird. Auch die hier im Spiegel-Artikel angesprochene Aufarbeitung muss über den Einzelfall hinaus gehen.
Es sind die Nebensätze, die aufhorchen lassen und sensibilisieren müssen – und die über Münster weit hinaus reichen.
Wir erinnern uns: Mit der öffentlichkeitswirksamen Präsentation der Ermittlungsergebnisse – in Bild und Ton in allen Hauptnachrichtensendungen und darüber hinaus in allen Printmedien – war zunächst die Einzigartigkeit dieses Vorgangs herausgestellt worden.
Das trifft sicherlich die Wahrheit, wenn man die Perspektive der Opfer dieser Taten einnimmt – und vielleicht auch den Umfang des Ermittlungserfolges, der die Strafverfolgungsbehörden sicherlich überrascht hatte.
Aber – um nicht falsch verstanden zu werden:
Leider ist es so, dass Kindesmissbrauch und das Verteilen kinderponrnographischer Missbrauchsdarstellungen keine Randerscheinungen sind und lediglich die hohe Dunkelziffer das wahre Ausmaß der Schrecknisse, denen die Kinder hier ausgesetzt sind, noch verschleiern. Immerhin wiederholen sich die Mitteilungen über das unvorstellbare und bis dato unbekannte Ausmaß der schockierenden Ergebnisse leider. Auch wird das Herausstellen einer Einzigartigkeit wie hier in Münster denjenigen Menschen nicht gerecht, die tagtäglich ihre Arbeitszeit damit verbringen müssen, kinderpornographisches Material zu sichten, Ermittlungsansätze zu generieren, Ergebnisse zusammenzutragen und abzugleichen. Es ist eine schwere und belastende Arbeit, die hier von vielen Menschen in den Strafverfolgungsbehörden im Bund und in den Ländern geleistet wird – und deren Kärrnerarbeit bei der medienwirksamen Herausstellung einzelner Fälle nicht die ihnen gebührenden Würdigung erfährt.
Das ist aber nur ein Punkt.
Ein weiterer – ebenfalls aus der Erinnerung – ist die Kampagne, die die BILD-Zeitung in den folgenden Tagen gefahren hat und die dazu geführt hat, dass sich die Bundesministerin für Justiz und Verbraucherschutz genötigt sah, innerhalb weniger Tage eine Strafrechtsreform mit dem Ziel der Verschärfung der Strafandrohungen auf den Weg zu bringen. Dies, obwohl aus Fachkreisen ein solches Instrumentarium als nicht sonderlich hilfreich eingeschätzt wurde und – jetzt, nach der Reform – auch wird.
Also: Roma locuta, causa finita?
Das Strafmaß ist hoch: 14 Jahre mit anschließender Sicherungsverwahrung für den 28-jährigen Haupttäter. Zehn Jahre Haft für einen 36-Jährigen aus Hannover für vier Fälle, elf Jahre und sechs Monate für einen 43-Jährigen aus Schorfheide in Brandenburg für fünf Fälle und zwölf Jahre für einen 31-Jährigen aus dem hessischen Staufenberg für sechs Fälle. Auch gegen diese Mittäter wurde anschließende Sicherungsverwahrung angeordnet. Die Mutter des Hauptäters wurde zu fünf Jahren Freiheitsstrafe wegen Beihilfe verurteilt. Wenn das Urteil auch in der Revision Bestand haben sollte, wären die Täter vermutlich für immer weggeschlossen. Causa finita? Aus den Augen – aus der Gefahr?
Diese Täter – vielleicht.
Tatsächlich ist die Gefahr für viele – viel zu viele – Kinder dadurch nicht geringer geworden. Das Gericht hat ausgeführt, dass durch den Lockdown und den ausfallenden Präsenzunterricht in den Schulen die Handlungsdichte der Taten angestiegen sei.
Daraus folgt zunächst, wie wichtig nicht nur Schule für das Heranwachsen von Kindern und Jugendlichen ist, sondern dass dort eben auch den Kindern die individuelle Aufmerksamkeit entgegengebracht werden muss. Wenn die Hochrechnungen von diversen Kinderschutzorganisationen ernst genommen werden, dann kommen auf jede Schule mehr als nur ein Missbrauchsopfer. Dann gibt es die Vereine und sonstigen Einrichtungen, die Kinder aufsuchen: Sind die Lehrer:innen und Mitarbeiter:innen hinreichend sensibilisiert und können diese Alarmzeichen frühzeitig erkennen? Gibt es Anhaltspunkte, aus denen schon eine Gefährdungslage für Kinder angenommen werden könnte – und was sind dann die Handlungsmöglichkeiten? Wie können Eltern in einen entsprechenden Kontext eingebunden werden – wie können die Kinder stabilisert und sicher gemacht werden. Aber auch: Wie kann die kindliche Neugier auf ihren Körper und ihre Entwicklung so begleitet werden, damit diese nicht für Missbrauch ausgenutzt werden können? Dabei sind es unter Umständen auch Kinder aus so genannten randständigen, vielleicht bildungsferneren Familien, gegebenenfalls mit Migrationshintergrund und wenig Einbindung in Vereinsstrukturen, die hier anfällig sein könnten.
Dann ein Weiteres: Die Jugendämter sind personell und organisatorisch oft nicht in der Lage, kindeswohlgefährdende Entwicklungen zu erkennen und entsprechende Maßnahmen in die Wege zu leiten. Hier, wie übrigens auch zuvor in Staufen, war das Jugendamt nah an einem der Opfer dran – der Haupttäter hatte, um eine weitere Bewährung zu erhalten, selbst den Kontakt gesucht, um eine günstige Sozialprognose zu erhalten.
Daneben konstatierte das Gericht, dass der Missbrauch wohl an der Tagesordnung war: „Die Aufnahmen hätten den Anschein erweckt, als sei sexueller Missbrauch »trauriger Alltag« der geschädigten Kinder.“ schreibt der SPIEGEL.
Dass Kinder so lange unerkannt von ihrer Lebensumwelt missbraucht – und für den Rest ihres Lebens an Leib und Seele geschändet – werden, das ist eine bittere und traurige Erkenntnis.
Strafverfolgung und Aufdeckung der Taten nützt den Opfern wenig: In diesem Phänomenbereich ist es wie ein Rennen zwischen Hase und Igel. Bis das Material auf den Schreibtischen der Ermittlungsbehörden landet, sind die Seelen der Kinder längst gebrochen. Dabei produzieren die technischen Möglichkeiten der Verteilung und der Vervielfältigung unglaubliche und kaum vorstellbare Datenmengen. Sowohl höhere Strafandrohungen als auch weitere Befugnisse in online-Ermittlungen lassen die Zahlen aber nicht sinken:
Das ist das bedrückende aber weitestgehend übereinstimmende Ergebnisse aus der kriminologischen Forschung. Umso wichtiger ist es, Kinder resilient zu machen – und die Menschen, die mit Kindern Umgang pflegen, zu sensibilisieren: Auch im virtuellen Umfeld gibt es meistens Täter:innen aus dem sozialen Nahbereich, das haben Staufen, Lügde und nun auch Münster gezeigt. Dazu kommt eine Vielzahl von Material aus dem Ausland – und die damit verbundenen Schwierigkeiten. Ein Lichtblick dürfte hier die internationale Zusammenarbeit insbesondere mit den Vereinigten Staaten sein, auch wenn sonst die Rechtshilfe nur in wenigen Ausnahmen schnell und effektiv funktioniert. (Was wiederum die verschiedensten Gründe hat)
Auch wenn also in diesem Fall die Täter und die Täterin lange und vermutlich sogar sehr lange weggeschlossen werden: Es ist auf keinen Fall eine causa finita – der Schutz der Kinder vor sexuellem Missbrauch steht noch ziemlich am Anfang – und damit dies auch grenzüberschreitend besser funktioniert – sowieso.
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