Grau sei alle Theorie, meinte Goethe im Faust.

Und dennoch darf man sich wundern, wie er weiter schreibt, dass des Lebens goldner Baum nun grün sei.
Was denn nun, fragt sich die geneigte Leserschaft: Golden oder grün, oder beides? Was will der Dichter uns damit sagen?
Und damit sind wir bei einer zentralen Fragestellung, die uns in der Mediation immer wieder beschäftigt.
Zunächst steht am Anfang also die graue Theorie. Die (Nicht-)Farbe „grau“ impliziert, und so ist das auch im „Faust“ gemeint, nichts Halbes und nichts Ganzes. Man kann sich mit der Theorie befassen, diese wälzen, durchdenken – und dennoch bleibt sie fern.
Brauchbar wird das theoretische Wissen erst, wenn es mit dem Leben in Kontakt tritt: Dabei ist nun nicht gemeint, dass wir uns frei von Wissenschaftlichkeit den Fragen, die sich uns stellen, widmen sollen. Vielmehr geht es darum, das Leben als solches anzunehmen: Deswegen ist es auch des Lebens goldener Baum, der hier beschrieben wird.
Für ein Mediationsverfahren bedeutet dies, dass bei der Konfliktklärung und der Konfliktbewältigung immer wieder darauf rekurriert werden muss: Was sind die Bedürfnisse der jeweiligen Medianten? Worauf kommt es den Betroffenen in dieser konkreten Situation tatsächlich an? Was ist deren goldener Baum, der deren Leben symbolisiert und charakterisiert?
Dann, und damit kann das Farbenrätsel Goethes ein Stück weit aufgelöst werden, denn dieser goldene Baum, der die Individualität einer/eines jeden Einzelnen versinnbildlicht, muss ergrünen, um zum Baume des Lebens zu werden.
Ergrünen kann dieser Baum, wenn der Konflikt, oder die Konflikte, die das Leben im Moment belasten, gelöst werden können. Das geht aber – und damit sind wir wieder beim Anfang – nicht allein mit der Theorie oder einem Wissensschatz aus dem dahinter liegenden Recht. Vielmehr gelingt es dann, wenn die Konfliktparteien sich auf Augenhöhe begegnen können und beide den Schatz dieses goldenen Baumes auf der jeweils anderen Seite anzuerkennen vermögen. Damit öffnet sich der Raum für die Kommunikation von Bedürfnissen und die Schaffung einer Bereitschaft, die jeweils anderen als solche zu betrachten.
Grau ist alle Theorie – auch und gerade in der Mediation geht es darum, die Individualität der Konfliktparteien nicht nur zu achten, sondern sie als wertvollen Bestandteil der Konfliktlösung zu begreifen.
Goethe war zwar Jurist, aber er dürfte von der Mediation, wie wir sie kennen, noch keine Vorstellung gehabt haben. Aber er hatte ein Gespür für das Wesentliche, auch wenn es um Konflikte und deren Lösung (oder dem Scheitern einer solchen) ging.